Von 1000 Dingen, die das Leben lebenswert machen

11.03.2022


Von 1000 Dingen, die das Leben lebenswert machen

Bei dem Klassenzimmerstück "All das Schöne" sammelten die Studierenden der Fachakademie für Sozialpädagogik in Weiden Dinge, die das Leben, lebenswert machen. Fotos: Neuber

Ein Gastbeitrag von Dr. Barbara Neuber, Deutschlehrerin an der Caritas-Fachakademie für Sozialpädagogik in Weiden:

„Das mit der Liste begann nach ihrem ersten Selbstmordversuch.“ Mit diesem Satz nahm Gregor Raab vom Jungen Ensemble des Luisenburgtheaters die Studierenden des 1. Studienjahres der Caritas-Fachakademie für Sozialpädagogik in Weiden mit auf eine Reise in die Vergangenheit eines jungen Mannes, dessen Leben von den schweren Depressionen seiner Mutter geprägt ist. Die Geschichte von „All das Schöne“ von Duncan Macmillan wurden von The Guardian als „lebensbejahender Monolog über ein todernstes Thema“ beschrieben: „[…] hinreißend, herzergreifend und gänzlich unsentimental. All das Schöne ist sogar ein umwerfend komisches Stück über Depression – und womöglich eines der komischsten Stücke überhaupt.“

Fenja Makosch hat dieses Stück als Klassenzimmertheater inszeniert: Als Aufführung, die direkt im Klassenzimmer stattfindet. Gregor Raab, der einzige Darsteller, schafft es, seine jungen Zuschauer nicht nur durch seine mitreißende Art und die außergewöhnliche Thematik zu fesseln. Immer wieder tritt er in Dialog mit dem Publikum, einzelne Schülerinnen und Schüler müssen Rollen übernehmen und spontan mitspielen.

Schon vor Beginn des Stückes verteilte der Hauptdarsteller an die Studierenden Zettel, auf denen nummerierte Sätze und Begriffe standen. Noch war nicht klar, was es damit auf sich hatte, außer dass die Sätze bei Nennung der entsprechenden Nummer ihren Satz vorlesen sollten.

Das Stück beginnt mit einem Rückblick des Erzählers in die Zeit als siebenjähriger Junge. Seine Mutter hat versucht, sich das Leben zu nehmen und er sitzt mit seinem Vater im Auto auf dem Weg ins Krankhaus zu ihr. Und hier wird bereits das erste Mal ein Zuschauer direkt in die Geschichte eingebunden, der den Protagonisten als Kind spielen soll. Tobias Bierler aus dem 1. Studienjahr musste als der 7-jährige Sohn den Vater mit seinen Warum-Fragen löchern, die sich immer mehr ins Dramatische steigerten. „Warum ist Mutter im Krankenhaus?“ „Sie ist traurig.“ „Warum?“ „Weil sie nicht weiß, wofür es sich zu leben lohnt.“ So endet diese Fragespirale schließlich. Dann wechselt die Perspektive. Der Hauptdarsteller berichtet wieder im Rückblick: „In Wirklichkeit war es anders. Wir saßen einfach nur im Krankenhaus.“ Und er erzählt von der Idee mit der Liste: Er möchte für seine Mutter 1000 schöne Dinge sammeln, für die es sich zu leben lohnt: „1.: Eiscreme. 2.: Wasserschlachten. 3.: Länger aufbleiben dürfen als sonst und fernsehen.“

Spätestens jetzt war den Studierenden klar, was die Sätze und Begriffe auf ihren Zetteln bedeuteten – es waren die schönen Dinge, die sie im Laufe des Stückes immer wieder vorlesen sollten. Die nächste Rolle im Stück musste Saskia Zupfer als Schulpsychologin Frau Freud übernehmen. Der Junge erzählt ihr bzw. ihrem Sockenhund, dem die Studierende den Namen „Patrick“ gab, von seinem Vorhaben mit den 1000 schönen Sachen. „All das Schöne“ wolle er auf der Liste sammeln.

Diese Liste legt der Junge nach der Rückkehr seiner Mutter aus dem Krankenhaus auf ihr Bett. „Ich weiß nicht, ob sie es wirklich richtig gelesen hat. Aber sie hat die Rechtschreibfehler korrigiert“, ist das traurige Resümee.

Zehn Jahre später: Wieder hat die Mutter versucht, sich das Leben zu nehmen. Und wieder möchte der mittlerweile Jugendliche versuchen, ihr mit der Liste zu helfen. Er schreibt sie weiter, aber nicht nur das: „Ich habe Post-Its mit schönen Dingen im ganzen Haus verteilt. Ich habe sie auch auf die Innenseite der Cornflakespackung geschrieben […] in die Deckel von Senfgläsern: Brad Pit. Hängematten. Die Stimme von Robby Williams. Entscheiden, dass man nie zu alt ist, um auf einen Baum zu klettern. Nacktbaden.“

Aber was bleibt, sind zunehmende Verzweiflung und immer wieder das Gefühl, als Kind selbst schuld an der Situation der Mutter zu sein. Schließlich erhält die Geschichte eine scheinbare Wendung. Der Erzähler, mittlerweile Student an der Universität, begegnet in der Bibliothek der Studentin Lena, die nun von Nina Weinhardt aus dem 1. Studienjahr gespielt werden musste. Sie beginnen ein Gespräch und leihen sich ab diesem Zeitpunkt gegenseitig Bücher, bis Lena erzählt, dass sie in einem seiner Bücher „etwas sehr Interessantes“ gelesen hätte. Zu Hause fällt die Liste aus dem Buch. Die Situation ist ihm fürchterlich peinlich, bis er bemerkt, dass sie nach seinem letzten Eintrag „999: Sonnenschein“ mit einer anderen Handschrift weitergeführt ist:  

1000: Wenn jemand dir Bücher leiht.

1001: Wenn jemand die Bücher, die du ihm gibst, tatsächlich liest.

1002: Wenn du etwas über jemanden erfährst, das dich überrascht, dir aber vollkommen einleuchtet.

1003: Wenn du jede Minute am Tag an jemanden denken musst, sodass du kaum mehr schlafen oder etwas essen kannst und er dir vollkommen vertraut vorkommt, obwohl du ihn erst seit kurzem kennst.

1004: Eine Gelegenheit finden, wie man das sagen kann, ohne dass wir zur selben Zeit im selben Raum sind, weil wir beide schüchtern sind und schreckliche Angst vor Zurückweisung haben, aber wenn ich jetzt nichts sage, passiert es nie.

1005: Über sich in der dritten Person schreiben.

In dieser Nacht schreibt der junge Student die Liste weiter. Bis zum Morgen möchte er 2000 schöne Dinge sammeln, aber schließlich kann er nicht aufhören und sammelt immer weiter. Es folgt die Erzählung, wie die beiden zum Paar werden und Lena, die nun wieder von Nina Weinhardt gespielt werden musste, ihm einen Heiratsantrag macht. Es wird Hochzeit gefeiert, der Vater – spontan gespielt von Andreas Karl – hält eine bewegende Rede, es folgen die Flitterwochen und alles scheint perfekt. Doch dann beginnt der Alltag, zur Routine zu werden. Der junge Mann erzählt, wie die beiden wegen Kleinigkeiten zu streiten beginnen: „Da war wieder dieses falsche Gefühl. […] Wehr dich, oder lauf weg.“ Die Beziehung scheitert, Lena zieht aus und hinterlässt eine Nachricht auf dem Cover einer CD, dass sie ihn liebt und sie es noch einmal versuchen würde, wenn er bereit dazu wäre. Diese Nachricht liest er sieben Jahre später.

Und in diesem Moment beginnt er zu erkennen, dass er Hilfe braucht. Er ruft seine ehemalige Lehrerin und Schulpsychologin Frau Freud an: „Ich bin ein Schüler von Ihnen. Erinnern Sie sich an mich? Ich bin der Junge mit der Liste. Ich würde gerne mit Patrick sprechen. […] Ich bin so traurig und ich weiß nicht, wie ich das ändern kann. Deshalb wollte ich mit jemandem sprechen, der mich wirklich kennt. War ich als Kind glücklich?“ Nach diesem Telefonat sucht er sich eine Selbsthilfegruppe. Er erzählt von seiner Liste: „Am Anfang habe ich sie für meine Mutter geschrieben“, wodurch spätestens jetzt klar ist, dass er sich mit dieser Liste sein Leben lang auch selbst helfen wollte. Und er führt die Liste zu Ende: „Ins Kino gehen. Nette Kollegen treffen. Frisches holz riechen. […] 999998: unpassende Songs in gefühlvollen Momenten. 999 999: Eine Sache abschließen. 1 Million: Eine Platte auflegen, zuhören und das Cover lesen.“

Bis zum letzten Satz mitreißend endet das Stück hier.

Auch wenn offen bleibt, wie es weitergeht, stehen am Ende doch die Hoffnung und die Erkenntnis: Eine Depression muss nicht das ganze Leben bestimmen. Man muss nur den Mut haben, ihr ins Gesicht zu sehen und sich im Kampf gegen sie helfen lassen. 

Bevor sich die Studierenden mit Standing Ovations beim Ensemble für diese unvergessliche Vorstellung bedankten, bekamen sie als Abschluss Kärtchen, auf die sie selbst ein oder mehrere schöne Dinge schreiben sollten, die das Leben ihrer Meinung nach lebenswert machen. Das junge Ensemble sammelt diese Kärtchen in allen Klassen während der gesamten Spielzeit in einer Box und wird sich am Ende von all dem Schönen überraschen lassen.

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