"Die Kinder haben den Traum, in ihre Familie zurückzukehren"

28.05.2022


"Die Kinder haben den Traum, in ihre Familie zurückzukehren"

Im Caritas-Kinderheim St. Vinzenz in Landshut leben rund 65 Kinder und Jugendliche. Das Kinderheim ist kein Ersatz für ein Elternhaus. Es ist ein Ort der Erfahrung und der Erziehung. Welche Chancen ein Leben im Kinderheim für die Kinder bietet und mit welchen Problemen sie kämpfen, darüber spricht die Leiterin Magdalena Dauer im Interview

Das Caritas-Kinderheim St. Vinzenz liegt im Herzen der Stadt Landshut. Fotos: Caritas Landshut

Der Artikel ist zuerst erschienen im Dingolfinger Anzeiger. Das Interview führte Michael Seidl.

Durch die Trennung oder den Verlust der Eltern fehlen den Kindern in Ihrer Entwicklung wichtige Bezugspersonen. Projizieren diese die Mutter- beziehungsweise Vaterrolle deshalb auf die Mitarbeiter des Kinderheims und wenn ja, wie äußert sich dieses Phänomen konkret?

Magdalena Dauer: Alle Menschen, die hier arbeiten, haben eine professionelle pädagogische Ausbildung durchlaufen, an der wir auch täglich weiterarbeiten. Das hilft uns dabei, diese Projektionen zu vermeiden. Das Setting ist hier grundlegend anders als in einer Familie, wodurch der Vergleich mit den Eltern nicht unbedingt auf der Hand liegt. Wir übernehmen die Fürsorge und Verantwortung für die Kinder, aber die Projektionsfläche sehe ich dennoch nicht als besonders groß. Eine weitaus größere Herausforderung ist, dass die Kinder weiterhin natürlich lieber bei ihren Eltern wohnen würden. Manche Kinder wohnen bei uns sehr lange, teils sogar dauerhaft zwischen ihrem sechsten und 18. Lebensjahr. Trotzdem haben die Kinder während des stationären Aufenthalts immer den Traum, wieder in ihre Familie zurückkehren zu können. Daran halten die Kinder oft wahnsinnig lange fest. Die Eltern sind die zentralen Personen ihres Lebens, auch wenn die Beziehungsqualität zu diesen oft ambivalent ist. Für die Erzieher ist es daher eine große Herausforderung, diesen Spagat zwischen Elternarbeit, dem Wunsch des Kindes nach der Heimkehr und einer guten Beziehung zu den Kindern zu schaffen. Natürlich möchte man aber auch als Erzieher gemocht werden. Wir sind aber nicht der Grund, warum die Kinder nicht bei ihren Eltern leben können. Wir entscheiden das nicht, die Kinder müssen nicht zwischen uns und den Eltern wählen. Sie leben bei uns, aber sie gehören nicht zu uns.

Nichtsdestotrotz hat aber auch jedes Kind seinen Lieblingserzieher/seine Lieblingserzieherin?

Magdalena Dauer: Natürlich. Um Projektionen zu vermeiden, führen wir auch regelmäßig Supervisionen, Teamsitzungen und Fallbesprechungen durch. Geäußerte Gedanken der Erzieher wie ein bestimmtes Kind zur Pflege zuhause aufzunehmen oder mit diesem auch in der persönlichen Freizeit Unternehmungen machen zu wollen, lassen dann natürlich die Alarmglocken läuten. Aber tatsächlich stellen sich solche Fragen äußerst selten, da wir eben an unserer professionellen Haltung stetig arbeiten. Es sind nicht unsere Kinder und ich will auch nicht, dass die Kinder eine Beziehungsproblematik entwickeln. Sie sollen sich keinesfalls zwischen uns und ihrem Elternhaus hin- und hergerissen fühlen. Die Beziehungsempfindungen dieser Kinder sind belastet genug.

Magdalena Dauer, die Leiterin des Caritas-Kinderheimes St. Vinzenz in Landshut Foto: Michael Seidl

"Die Eltern sind die zentralen Personen ihres Lebens, auch wenn die Beziehungsqualität zu diesen oft ambivalent ist."
Magdalena Dauer, Leiterin des Caritas-Kinderheims St. Vinzenz in Landshut

Inwiefern entwickeln die Kinder auch psychosomatische Symptome im Rahmen ihrer Unterbringung im Kinderheim? Schließlich legt die Wissenschaft in vielen Punkten nahe, dass die Trennung von den Eltern, ungeachtet aller Widrigkeiten im Elternhaus, ein traumatisches Ereignis darstellt, das in der Folge auch körperliche Reaktionen hervorrufen kann.

Magdalena Dauer: Psychosomatische Symptome können wir sehr häufig beobachten. Alltäglich sind dabei diffuse Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen. Der Einzug in ein Kinderhaus ist ein neuralgischer Punkt im Leben eines Kindes. Unklarheit macht es für die Kinder noch schwieriger. Deshalb ist es entscheidend, dass alsbald nach der Inobhutnahme ein klärendes Gespräch zwischen Eltern und Jugendamt stattfindet. Wenn Kinder Klarheit haben und wieder eine Lebensstruktur erhalten, finden sie sich auch wieder schneller zurecht.

Inwieweit erkennen Sie in Ihrer täglichen Arbeit, dass Kinder vielleicht schädliches Verhalten ihrer Eltern übernehmen? Stellen Sie in diesen Fällen verstärkte Aggressivität fest?

Magdalena Dauer: Das ist tatsächlich zu befürchten. Zwar nicht unbedingt im Kindesalter, aber im späteren Verlauf ihres Lebens. Einige Kinder entwickeln im Laufe der Zeit eine Bindungsstörung, die ihnen wiederum die Entwicklung belastbarer Beziehungen oder einer Partnerschaft verwehrt. Die Bindungsbelastung wird in deren Leben immer wieder eine Rolle spielen. Fremd- und Selbstgefährdungen finden in der Folge von Inobhutnahmen eher weniger statt. Die Kinder kommen an und versuchen sich, an die neuen sozialen Rahmenbedingungen anzupassen. Bei Jugendlichen sind eher selbstgefährdende Muster zu beobachten. Manche teilen in ihrer Verzweiflung auch suizidale Ängste, da sie in Sorge um ihre persönliche Zukunft sind.

Wie gelingt es, Kinder, die im Rahmen einer Inobhutnahme dem Kinderheim übergeben wurden, in die soziale Struktur der bereits wohnhaften Kinder zu integrieren?

Magdalena Dauer: Wir versuchen, innerhalb unseres Hauses möglichst offen für alle neuen Kinder zu sein, wodurch derartige Probleme eher selten entstehen. Wenn ein neues Kind einzieht, sind alle anderen daran interessiert, sich kennenzulernen. Kinderheim-Kinder grenzen sich eher nach Außen ab. Ich würde mir manchmal wünschen, sie würden außerhalb des Hauses mehr Freundschaften schließen. Gerade Jugendlichen ist es aber wichtig, nicht aufzufallen und sich anzupassen. Deshalb ist die Gemeinschaft innerhalb des Kinderheims sehr stark. Sie können sich mit anderen Kindern und Jugendlichen aus dem Kinderheim sehr gut über die jeweiligen Probleme unterhalten, da diese sich oft ähneln oder sogar gleichen. Die Kinder wollen ein Teil des Hauses und damit ein Teil der Gemeinschaft sein. Mit Kindern außerhalb des Heims finden sie jedoch eher schwerer zu gemeinsamen Gesprächsthemen, da sie sich teils auch unterlegen fühlen.

Unter welchen Umständen werden Kinder an psychotherapeutische Kinderheime überwiesen? Wie oft kommt es zu diesen Entscheidungen?

Magdalena Dauer: Es gibt Kinder, die sind bei uns nicht richtig. Bei immer wiederkehrenden Fragen der Verhaltenssteuerung oder Selbst- und Fremdgefährdung stößt unser Setting an seine Grenzen. Es gibt dann die Möglichkeiten der Aufnahme in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder den Umzug in eine therapeutische Wohngruppe. Wir selbst betreiben aber auch eine intensivpädagogische Wohngruppe mit sechs Plätzen und einer eins zu eins Betreuung. Diese Gruppe ist für das gesamte Kinderheim von Nutzen. Kinder mit erhöhtem Betreuungsaufwand können so bei uns bleiben und müssen nicht die Schule wechseln.

"Wenn ein neues Kind einzieht, sind alle anderen daran interessiert, sich kennenzulernen. Kinderheim-Kinder grenzen sich eher nach Außen ab."
Magdalena Dauer, Leiterin des Caritas-Kinderheims St. Vinzenz in Landshut
"Erziehungsarbeit ist kein schnurgerader Weg und auch kein klar formuliertes Ziel. Zu unserer täglichen Arbeit gehört es, den Eltern mit Respekt zu begegnen, was sich auch in offener Zusammenarbeit niederschlägt."
Magdalena Dauer, Leiterin des Caritas-Kinderheims St. Vinzenz in Landshut

Wie häufig sehen Sie sich mit den Eltern der untergebrachten Kinder konfrontiert? Sind bereits Fälle von Bedrohung gegenüber Ihren Mitarbeitern aufgetreten?

Magdalena Dauer: Die Elternarbeit ist grundsätzlich essenziell für das tägliche Arbeiten mit den Kindern. Sie stellt eine der größten Herausforderungen dar und leider geht es zum Beispiel in der Ausbildung zum Erzieher nur sehr wenig um Gesprächsführung oder Sozialpädagogik. Umgang mit schwierigem Klientel ist etwas, was man im Kinderheim erlernen und üben muss. Wir wollen den Eltern auf Augenhöhe begegnen und nicht mit dem mahnenden Zeigefinger herumlaufen. Wir benötigen mit diesen eine gesunde Gesprächsbasis, um mit ihnen weiterarbeiten zu können. Unterschieden werden muss dabei zwischen Fällen, in denen die Eltern der Jugendhilfemaßnahme zugestimmt haben, und Fällen, die auf einer gerichtlichen Entscheidung beruhen. Die Elternarbeit ist ein stetiges Auf und Ab, wir haben mit den Eltern äußerst selten eine dauerhaft positive Beziehung. Eltern versprechen häufig den Kindern, dass sie bald nach Hause kommen dürfen, und wir müssen dann der Herausforderung begegnen, den Kindern zu vermitteln, dass diese Versprechungen nicht eingehalten werden können. Das ist zwar zutiefst menschlich, aber für die Kinder sind solch hohle Versprechungen wirklich hart.

Ist dieses Vorgehen dann nicht extrem destruktiv? Macht es nicht vieles zunichte, was Sie in Zusammenarbeit mit den Kindern aufgebaut haben?

Magdalena Dauer: Ich glaube, es gehört zu unserem Weg. Dass Eltern diese Versprechungen machen und wir dies in der Folge dann auffangen müssen, ist in der stationären Kinderbetreuung einfach unser tägliches Business. Erziehungsarbeit ist kein schnurgerader Weg und auch kein klar formuliertes Ziel. Zu unserer täglichen Arbeit gehört es auch, den Eltern mit Respekt zu begegnen, was sich auch in offener Zusammenarbeit niederschlägt. Eine wichtige Rolle spielt dabei natürlich auch das Jugendamt, daher ist es ebenso entscheidend, dass die Hilfeplanverfahren transparent gestaltet werden.

"Nicht die Kinder, sondern die Eltern müssen sich ändern."
Magdalena Dauer, Leiterin des Caritas-Kinderheims St. Vinzenz in Landshut

Wie ist die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern im Allgemeinen zu bewerten?

Magdalena Dauer: Es gibt sicher manchmal Hilfeplangespräche, die an der eigentlichen Problematik vorbeigehen. Es ist aber auch unsere Arbeit, diesen Hilfeplan zusammen mit den Jugendämtern sinnvoll zu gestalten. Die Zusammenarbeit würde ich allgemein als „ganz gut“ beschreiben. Für Erwachsene ist es wahnsinnig schwer, das eigene Leben grundlegend zu verändern. Diese Veränderungen verlangen wir von den Kindern fast täglich, für ihre Eltern ist es aber umso schwerer. Viele Eltern haben nicht die Ressourcen oder auch die Bereitschaft, bei sich anzufangen und sich zu fragen, was sich ändern müsste, damit die Kinder wieder nach Hause kommen dürfen. Deswegen arbeiten wir uns oft in ultrakleinen Schritten vor. In vielen Fällen sind die Rahmenbedingungen, die das Jugendamt schafft, total positiv, wir müssen gleichzeitig aber immer im Auge behalten, dass nicht die Kinder, sondern die Eltern sich ändern müssen.

Wie gehen Ihre Mitarbeiter oder auch Sie persönlich mit besonders schweren Schicksalen und deren Geschichten psychisch um? Ist es in Ihrem Beruf überhaupt möglich, persönliche Emotionen und berufliche Aufgabe stets voneinander zu trennen?

Magdalena Dauer: Mit diesen Kindern pflegen wir einen genauso offenen Umgang. Deshalb wissen wir zumeist sofort, wie wir die Kinder adäquat betreuen. Die Geschichten sind allerdings manchmal tatsächlich sehr belastend. Über einige Schicksale ließen sich ganze Bücher verfassen. Hierbei ist der fachliche Austausch im Team die wichtigste Stütze. Die persönliche Belastung wird dabei möglichst klein gehalten, da wir zusammen dann an der weiteren Entwicklung des Kindes arbeiten. Die Aufnahme in eine stationäre Kinder- und Jugendhilfe ist oft das Ende einer langen Eskalationskette. Daher ist es uns auch klar, dass die Kinder und deren Eltern schon vieles erleben und erleiden mussten.

Inwiefern werden Ihre Mitarbeiter, die durch die tägliche Zusammenarbeit mit den Kindern zum Einen und der Interaktion mit Eltern, Jugendamt und weiteren Interessensgruppen zum Anderen einer enormen psychischen Belastung ausgesetzt sind, supervisorisch betreut?

Magdalena Dauer: Jedes Team kann einmal im Quartal zudem eine Supervision buchen. Zudem ist es jederzeit möglich, ein Coaching-Gespräch mit dem Erziehungsleiter oder dem pädagogischen Fachdienst zu erhalten. Sich und seine Rolle zu hinterfragen und Erfahrungen zu reflektieren, ist in unserem Beruf wirklich von enormer Bedeutung.

Erfahren Sie auch positive Rückmeldung von ehemaligen Bewohnern des Kinderheims? Gibt es Fälle dankbarer Rückkehrer und wie kann man sich die Nachbetreuung nach Verlassen des Kinderheims eigentlich vorstellen?

Magdalena Dauer: Es gibt Rückkehrer in dieses Haus. Manche kommen aus Dankbarkeit, andere weil sie Hilfe brauchen. Diese Hilfe bieten wir auch jedem an, der uns verlässt. Teils kommen auch ehemalige Heimkinder, ältere Erwachsene, die ihren Lebenslauf nochmals nachempfinden wollen und sich Fragen zu ihrem Leben stellen.

"Ein ehemaliger Kollege sagte mal: 'Wir können gewisse verpasste Erlebnisse mit ihren Eltern nicht wiedergutmachen, aber wir können wenigstens dafür sorgen, dass die Kinder hier richtig Spaß haben.'“
Magdalena Dauer, Leiterin des Caritas-Kinderheims St. Vinzenz in Landshut

Welche Freizeitmöglichkeiten versuchen Sie, den Kindern zu ermöglichen? Wie schaffen Sie positive Assoziationen mit der Zeit im Kinderheim?

Magdalena Dauer: Ein ehemaliger Kollege meinte mal zu mir: „Wir können gewisse verpasste Erlebnisse mit ihren Eltern nicht wiedergutmachen, aber wir können wenigstens dafür sorgen, dass sie hier richtig Spaß haben.“ Hierfür organisieren wir gruppenübergreifende Urlaubsfahrten, machen Ausflüge in die Natur oder Städtetrips. Unsere Kinder freuen sich aber auch über gemeinsame Kinoabende, Faschingspartys oder Ähnliches. Diese Zusammenkünfte sehnen auch immer alle herbei. Wir brauchen eine gute Hausgemeinschaft, damit sich die Kinder hier auch wohlfühlen können.

Welche Rolle spielt in der erfolgreichen Erziehung der Kinder auch die Mithilfe von Kindertherapeuten oder öffentlichen/privaten Jugendhilfeorganisationen?

Magdalena Dauer: Viele unserer Kinder sind in ambulanter therapeutischer Betreuung. Wir arbeiten hart dafür, damit dieses Gut möglichst vielen Kindern offensteht. Schließlich ist es belastend für die Kinder, in einem Heim ohne ihre Eltern aufwachsen zu müssen. Leider gibt es aber viel zu wenig Plätze im entsprechenden Netzwerk. Wir werden von vielen Jugendämtern aus den umliegenden Landkreisen belegt und fühlen uns in gewisser Weise auch zuständig für die Region.

Weitere Informationen zum Caritas-Kinderheim gibt es hier: Kinderheim - Caritas - Landshut (caritaslandshut.de)

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