Eine Rose im Gepäck

02.07.2022


Eine Rose im Gepäck

Reisen im Rollstuhl? Urlaub als älterer Mensch oder als Mensch mit Handicap? Mit dem Sonnenzug der Caritas Regensburg ist das kein Problem! Dieser fährt immer am ersten Samstag im Juli. Eigentlich. Wenn da nicht Corona wäre. Aber Grund genug, um zu erzählen, wie alles begann.

Reisen im Rollstuhl: Mit dem Sonnenzug geht das. Das Bild zeigt eine Reisende beim Sonnenzug 2003 nach Tegernsee. (Archivfoto Caritas Regensburg)

Wer den Sonnenzug der Caritas Regensburg verstehen will, muss ins Paris Anfang des 20. Jahrhunderts reisen. Dort lebte der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke. Eines Abends überreichte er einer Bettlerin statt Münzen eine weiße Rose. Die Bettlerin verschwand für einige Tage. Wovon hatte sie gelebt? „Von der Rose“, sagte Rilke – von menschlicher Zuwendung.

Hermann Kerscher erzählt diese Anekdote gern. Der Diplom-Sozialpädagoge und heutige Rentner ist ehemaliger Abteilungsleiter für die sozialen Dienste der Caritas Regensburg, ein sozial engagierter Mann mit einer großen Liebe zur Literatur. Kerscher ist ein Mitbegründer des Regensburger Sonnenzugs. Mehr als drei Jahrzehnte organisierte er diesen, von den Anfängen in den 1970er-Jahren bis über die Jahrtausendwende.

Der Sonnenzug ist ein Erfolgsprojekt der Caritas: ein Urlaubstag für alte, pflegebedürftige und behinderte Menschen, immer am ersten Samstag im Juli. Für viele der Mitfahrer sind es die besten zwölf Stunden des Jahres. 2018 rollte der Sonnenzug zum 50. Mal, seit 2020 fällt er jedoch coronabedingt aus.

„Echte menschliche Begegnung ist wichtiger als der Sauerbraten.“
Hermann Kerscher, einer der Gründer des Sonnenzugs
Hermann Kerscher, ehemaliger Abteilungsleiter für die sozialen Dienste der Caritas Regensburg und Mitbegründer des Regensburger Sonnenzugs, mit einer Mitreisenden beim Sonnenzug 2006 nach Traunstein. Hermann Kerscher ist mittlerweile Ende 70 und im Ruhestand. (Archivfoto Caritas Regensburg)

Wenn Hermann Kerscher an die Anfänge des Sonnenzugs zurückdenkt, dann fällt ihm zuallererst die Geschichte von Rilke, der Rose und der Bettlerin ein. „Echte menschliche Begegnung ist wichtiger als der Sauerbraten“, sagt er. Für diesen Gedanken steht „sein“ Sonnenzug.

Doch natürlich wurde auf den vergangenen Sonnenzügen auch gegessen. Schon im Morgengrauen schleppten die Sonnenzughelfer den Proviant in die Waggons: 140 Kilo Bananen, 130 Kisten Getränke, zudem mehrere hundert belegte Brötchen und literweise Kaffee. Das wichtigste aber war stets die Rose im Gepäck.

„Wir sind im Laufe der Jahre eine Familie geworden“, sagt Kerscher. Da gibt es jene, die sich genau an diesem Tag wiedertreffen, und andere, die auf dieser Fahrt Freunde fürs Leben gefunden haben. Wenn alle Rollstuhlfahrer um den Altar gruppiert sind und zusammen die Heilige Messe gefeiert wird, dann geht nicht nur Kerscher das Herz auf. „Für viele ist es ein großartiges Erlebnis und eine besondere Freude, ganz weit vorne im Gotteshaus mitfeiern zu dürfen“, erklärt der Sozialpädagoge.

Gottesdienst beim Sonnenzug nach Traunstein 2006. (Archivfoto Caritas Regensburg)

Es ging mit dem Sonnenzug an den Chiemsee über Ettal-Linderhof bis zum Bodensee, vom Königssee über Dinkelsbühl bis nach Würzburg-Veitshöchheim. Der Sonnenzug machte auch Halt am Spitzingsee, in Heidelberg und Fulda und brachte seine Passagiere nach Innsbruck, Salzburg und Kufstein. Die Reisenden besichtigten Schlösser und Kirchen, schipperten über Seen und auf Flüssen. Als Kerscher auf die Frage antworten soll, welcher der Sonnenzüge nun der beste war, sagt er: „Sie waren alle großartig.“ Einige besondere Erlebnisse packt er dennoch aus.

Da kam es einmal zu einem unfreiwilligen Stopp auf einem Zwischenbahnhof. „Eine Stunde Wartezeit!“, lautete die Durchsage. Prompt stellte sich ein Akkordeonspieler der Reisegruppe auf den Bahnsteig und spielte zünftige Weisen und Walzer. Wer noch gut zu Fuß war, wagte ein Tänzchen. Alle anderen klatschten und sangen von den Zugfenstern aus mit.

Dramatisch ging es 1981 auf der Fahrt nach Kufstein zu: Ein Reisender erlitt einen Herzinfarkt. Smartphones gab es damals nicht, die Organisatoren und Helfer hatten Funkgeräte dabei. Doch sie steckten im Funkloch. Der Zug passierte langsam eine Gleisbaustelle. Da holte einer eine Klopapierrolle, notierte darauf einen Notruf und schmiss die Rolle aus dem Fenster den Gleisbauarbeitern in die Hände. Die Botschaft kam an: Am nächsten Bahnhof wartete ein Krankenwagen. Der Patient wurde schließlich gerettet.

Der Sonnenzug: Für viele Mitreisende der Höhepunkt des Jahres. (Archivfoto Caritas Regensburg)

Gerührt war Hermann Kerscher auch, als ihm eine Teilnehmerin verriet, dass sie sich selbst eine Karte vom Zielort geschrieben habe. Fast nie bekäme sie Post. Zudem erinnert er sich gerne daran, wie die mitreisenden Musiker einer Sonnenzug-Helferin ein Ständchen im Waggon sangen, ihr Lieblingslied, das „Frauenkäferl“. Bald flossen Tränen der Freude. Apropos Lieblingslied: Der Sonnenzug ist musikalisch ein einziges Wunschkonzert. Die mitfahrenden Musiker erfüllen immer jeden Liederwunsch, Geburtstagsständchen inklusive.

Was beim Sonnenzug nicht fehlen darf? Tanz und Musik! Hier tanzt die ehemalige Bürgermeisterin Hildegard Anke, eine langjährige Unterstützerin des Sonnezugs, beim Sonnenzug 2011. Ziel der Reise: Garmisch-Partenkirchen. (Archivfoto Caritas Regensburg)

Und die Wetterlage beim Sonnenzug? Zumeist dem Namen entsprechend: heiter bis sonnig. Einmal aber, erzählt Kerscher, hatten sie vermeintlich Pech: Salzburg, ganztägig Schnürlregen. Gerade da besichtigten sie die berühmten Wasserspiele im Schlosspark Hellbrunn. Keiner wusste mehr, woher das Wasser wirklich kam. Von oben, von unten, von allen Seiten. Sie lachten so darüber, dass sich Kerscher noch 38 Jahre später daran erinnert.

Wie holt man 400 Reisende, viele von ihnen im Rollstuhl, ins Boot? Sonnenzug zum Chiemsee 2009. (Archivfoto Caritas Regensburg)

Der Sonnenzug ist für seine Macher eine logistische Herausforderung, erzählt der ehemalige Cheforganisator. In Spitzenzeiten fuhren fast 1000 Gäste mit, heute sind es noch durchschnittlich 400 Passagiere. Welche Kirche, welches Museum, welche Gaststätte, welches Ausflugsschiff hat Platz für so viele Gäste, zahlreiche davon im Rollstuhl? In die schmalen Passagierschiffe, die über den Königssee schippern, brachten sie einst 100 Rollstuhlfahrer.

Um solche Herausforderungen zu meistern, fahren bei jedem Sonnenzug rund einhundert ehrenamtliche Helfer der Caritas und des Malteser Hilfsdienstes mit. In manchen Jahren sind und waren auch Schüler des St.-Mariengymnasiums und des Albrecht-Altdorfer-Gymnasiums mit dabei. Sie allen schenken den „Sonnenzüglern“ ihre Zuwendung wie Rilke einst der Bettlerin die Rose.

Hinweis der Redaktion: Der Text ist ein Archivtext und bereits zum goldenen Jubiläum des Sonnenzugs im Jahr 2018 erschienen.

Prominente Besetzung (v.li.): Die heutige Oberbürgermeisterin Gertrud Maltz-Schwarzfischer, Bischof Rudolf Voderholzer, Landrätin Tanja Schweiger und Caritasdirektor Michael Weißmann beim goldenen Sonnenzug 2018. (Archivfoto Caritas Regensburg)

P.S.:

Der bislang letzte Sonnenzug aus Regensburg startete am 6. Juli 2019. Ziel war das oberbayerische Garmisch-Partenkirchen und alle Hoffnungen liegen nun auf 2023. Am 1. Juli soll es dann wieder heißen: "Alles einsteigen! Wir fahren los!"

Besuchen Sie uns auf unseren
Social Media Kanälen:

Caritasverband für
die Diözese Regensburg e.V.
Von-der-Tann-Straße 7
93047 Regensburg

T +49 941 502 10
F +49 941 502 11 25
info@caritas-regensburg.de
www.caritas-regensburg.de