
Claudia Schüller atmet auf. Sie kann den Betrieb im Caritas-Unikindergarten Augustinushaus wieder am Laufen halten. Keine ihrer Mitarbeiterinnen hat sich an diesem Morgen krankgemeldet, niemand muss in Isolation oder Quarantäne. Es ist ein Donnerstag, Mitte März, zwei Jahre nach dem ersten Lockdown. Zwei Jahre nachdem Claudia Schüller ihre Einrichtung schließen musste wegen eines Virus, dessen Namen damals kaum einer kannte. Mittlerweile zählt Corona sogar zum Grundwortschatz von Kindergartenkindern.
Claudia Schüller hat 1989 ihre Ausbildung zur Erzieherin absolviert. Was sie lernte, lernte sie aus Überzeugung: „Das Arbeiten mit Kindern ist lebhaft, jeder Tag ist anders“, sagt sie. In den vergangenen zwei Jahren jedoch hat sie die herausforderndsten Jahre ihres Berufslebens erlebt. Nicht wenige aus ihrem Berufsfeld haben in dieser Zeit hingeschmissen.
Erziehen ist in Zeiten von Corona zur Zerreißprobe geworden
Laut einer OECD-Studie erwog bereits im Jahr 2020 jede vierte Erzieherin in Deutschland, ihren Beruf zu wechseln. Diese Tendenz dürfte sich zuletzt verschärft haben. Rundum das Augustinushaus mussten Kindergärten aufgrund von Personalmangel Gruppen schließen. Claudia Schüller hat eine Warteliste mit mehr als 100 Kandidaten. Ihr Betrieb läuft weiter. Doch auch im Augustinushaus haben zwei Erzieherinnen aufgehört. Die Belastungen waren zu groß. Erziehen ist in Zeiten von Corona zur Zerreißprobe geworden.
„Corona ist gefährlich“, sagt ein Junge aus der blauen Gruppe im Augustinushaus.
„Ich habe einen Ball, der aussieht wie ein Coronavirus“, sagt ein anderer.
„Ich möchte wieder meine Brotzeit teilen“, sagt ein Mädchen.
„Ich möchte wieder mit den Kindern aus der grünen Gruppe spielen“, sagt ein anderes.

"Was macht das mit den Kindern, wenn ich sie auf Abstand halten muss? Trösten auf Distanz − das geht nicht."
Die Corona-Pandemie hat im Caritas-Unikindergarten Augustinushaus vieles verändert. Wo die Erzieherinnen einst Tür- und Angelgespräche mit den Eltern führten, müssen sie jetzt Testnachweise kontrollieren. Wo sich einst die Kinder aus der blauen und der grünen Gruppe trafen – auf dem weiten Flur, eingerichtet mit Holzspielzeug und Bällebad − markieren nun blaue Abstandspunkte die Leere. Wo Claudia Schüler voller Ideen war, mit welchen Konzepten sie ihre Kinder fördern und bereits die Kleinsten der Gesellschaft zu Mitsprache und Selbstständigkeit erziehen könne, beschäftigt sie nun vor allem die Frage: Werde ich auch morgen noch ausreichend Personal haben, um den Kindergartenbetrieb am Laufen zu halten? Muss jemand in Quarantäne? Oder zuhause das eigene Kind in Quarantäne betreuen?
Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan steht im Schatten der Corona-Ordner
„Wir hatten bislang Glück“, sagt Claudia Schüller. „Den ersten Coronafall hatten wir erst am 28. Januar 2022.“ Die Leiterin des Kindergartens steht in ihrem Büro, an der Wand stehen zimmerhohe Schränke, deren Innenleben vor allem ein Thema bestimmt: Corona. Die Corona-Ordner füllen ein ganzes Regal, „da sind die Unterlagen zum Lockdown im März, zum Lockdown-Light im November, Quarantäneregeln, angepasste Quarantäneregeln, Rahmenhygienepläne, Elternbriefe sowie Berechtigungsscheine für Selbsttests-Kits“. Claudia Schüller hält inne und zieht ein Buch aus dem Regal: den Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan. Ein Buch, das seit der Corona-Pandemie im Schatten der Corona-Ordner steht.
Wie Claudia Schüller und ihrem Team geht es derzeit vielen Kindertageseinrichtungen: Sie arbeiten am Limit. Dabei geht es auch, aber nicht nur um den Fachkräftemangel. Das Virus zerrt an Zeit und Nerven. Claudia Schüller beispielsweise hat diesen Beruf erlernt, um Kindern etwas mitzugeben. Viel mitzugeben. Im Bildungs- und Erziehungsplan ist die Rede von Partizipation, Demokratieprinzip und Selbständigkeit, von sprach- und medienkompetenten Kindern, von fragenden und forschenden Kindern, von starken Kindern. Doch derzeit hangeln sich alle Beteiligten von Tag zu Tag. „Puh, schaffen wir das?“ lautet die Frage, mit der Claudia Schüller morgens die Tür zu ihrem Büro aufsperrt.
Eine ihrer Mitarbeiterinnen, mit denen sie es täglich aufs Neue schafft, heißt Johanna Waas. Sie ist die Erzieherin der blauen Gruppe und kam im September 2019 ins Augustinushaus, frisch von der Fachakademie, ihre erste Stelle. Sechs Monate hat sie unter normalen Umständen gearbeitet, dann kam Corona. Die Umstellung sei hart gewesen. Sie hat dazugelernt: die Kinder auf Hygieneregeln aufmerksam zu machen, Händewaschen zum Kernprinzip des Tages zu erklären, mit Kindern über Corona sprechen, ohne sie zu verängstigen, einen Weg finden, mit der eigenen Angst vor dem Virus umzugehen. Und bei all dem: den Kontakt zu den Kindern zu halten.
Wann geht es zurück zum Regelbetrieb?
„Ich bin eine wichtige Bezugsperson“, sagt Johanna Waas. „Was macht das mit den Kindern, wenn ich sie auf Abstand halten muss? Trösten auf Distanz − das geht nicht.“ Die Kinder dürfen daher weiterhin zu Johanna Waas auf den Schoß, etwas kürzer vielleicht als früher, aber immerhin. Die blaue Gruppe und ihre Erzieherin haben sich mittlerweile in der neuen Normalität zurechtgefunden.
Nur an die Maske hat sich Johanna Waas nie gewöhnt. Sie bietet Schutz, natürlich. Doch Erziehen, Trösten, Fördern, Basteln, Malen und Sprechen mit Maske – das strengt an. Zudem sehen die Kinder die Mimik ihrer Erzieherin nicht. Waas: „Ich habe gelernt, mit den Augen zu sprechen“. Nicht zuletzt seien die Kinder „voll in der Sprachentwicklung“. Für sie sei es wichtig, Worte nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, das Runden der Lippen beim O, das Öffnen des Mundes beim A, das Lächeln beim E.
Claudia Schüller und ihr Team wünschen sich daher vor allem eines: die Rückkehr zum Regelbetrieb. Tür- und Angelgespräche statt Testkontrollen, Mimik statt Maske, Konzepte für Kinder statt gegen Corona. Doch die Corona-Krise dauert an. Die aktuellen Lockerungen betreffen die Kindertagesstätten nur am Rande. Die Inzidenzen sind zu hoch, um die Gruppen zu mischen und die Masken abzulegen − und für länger als einen Moment aufzuatmen.
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