„Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder!“

19.02.2022


„Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder!“

Barbora Pokorny leitet die Caritas-Notunterkunft für Obdachlose NOAH – dein TagNachtHalt. Foto: Schophoff

Unmaskiert – Die Caritas zeigt Gesicht: In dieser Serie legen Mitarbeitende die Masken ab und erzählen von ihrer Arbeit bei der Caritas. Heute spricht Barbora Pokorny, die Leiterin der Caritas-Notunterkunft für Obdachlose:

„‘Wo geht’s denn hier zum Chef?‘ Diese Frage höre ich oft. ‚Wir haben keinen Chef‘, sage ich dann. ‚Hier sitzt eine Chefin.‘ Viele sind überrascht, dass eine Frau die Regensburger Unterkunft für Obdachlose leitet. Das Haus ist ja voller Männer, die auch mal laut oder konfliktbereit sind. ‚Wie kann das gehen?‘, fragen viele. ‚Das geht eigentlich ziemlich gut‘, sage ich dann.

Ich habe früh gelernt, für meine Werte einzustehen. Ich bin in Tschechien geboren und aufgewachsen, meine ersten zehn Lebensjahre verbrachte ich im Sozialismus, meine Eltern erzogen meine drei Geschwister und mich aber katholisch. Das hat mich stark geprägt. Bis heute weiß ich, was mir wichtig ist, und handle danach.

Seit knapp einem halben Jahr leite ich die Notunterkunft NOAH – dein TagNachtHalt. Respektprobleme gab es nie. Es gibt klare Regeln in unserem Haus, die ich klar kommuniziere. Daran müssen sich alle halten. Das Wichtigste für mich ist Gerechtigkeit, jeder kann jederzeit zu mir kommen.

Zuvor habe ich in der Familienhilfe gearbeitet und Mütter beraten, die ausgelaugt vom Familienleben waren. Der Wechsel in die Obdachlosenhilfe war zunächst nicht einfach. Hier in der Unterkunft leben derzeit 55 Menschen: 48 Männer und sieben Frauen. Darunter 18-Jährige, die Streit mit den Eltern hatten und deswegen jetzt auf der Straße leben, und 70-Jährige, die psychisch krank oder alkoholabhängig sind, und auf ein Leben zurückblicken, das sie so nie leben wollten.

Natürlich fordert das mein Team und mich heraus. Wir müssen 55 individuelle Zugänge zu den Bewohnern finden. Wenn ich erzähle, was ich arbeite, reagieren viele erstaunt und sagen, ‚das könnte ich nicht, täglich so viel Leid halte ich nicht aus.‘ Es stimmt schon. Wir haben jeden Tag mit Traurigkeit und Frustration zu tun und das ist anstrengend. Doch jeder Mensch hat Anspruch auf ein gutes Leben. Ich nutze meine Chance, obdachlosen Menschen neue Wege aufzuzeigen. Natürlich ist die Möglichkeit zu helfen begrenzt und nicht immer erfolgreich. Aber auf die Suche nach Ressourcen zu gehen und die Leute im Haus zu inspirieren – das macht Spaß!

Es ist ein gutes Gefühl, wenn wir jemanden vermitteln und sagen können: ‚Mensch, toll, jetzt fängst du neu an.‘
Barbora Pokorny, Leiterin der Notunterkunft für Obdachlose NOAH - dein TagNachtHalt

Hier wohnen erwachsene Menschen mit den unterschiedlichsten Eigenschaften und Charakterzügen. Sie sind aus verschiedenen Umständen gezwungen, in einer Kommune zu leben. Die Möglichkeit sich zurückzuziehen bietet sich kaum. Natürlich gibt es da Konfliktpotenzial und es entstehen Situationen, die eskalieren. Heute morgen hat eine Frau so laut geschrien, dass sie blau angelaufen ist. Ein Streit um eine Kleinigkeit war entbrannt.

Unser Ziel ist es, unsere Klientinnen und Klienten wieder in feste Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu bringen. Das gelingt zwar nicht immer, aber auch nicht selten. Gestern erst war ein ehemaliger Klient zu Besuch, der nun in einer eigenen Wohnung lebt. Da konnten wir dank einer Spende sogar die Wohnungskaution von hundert Euro übernehmen. Es ist ein gutes Gefühl, wenn wir jemanden vermitteln und sagen können: ‚Mensch, toll, jetzt fängst du neu an.‘

Ich erinnere mich auch gerne an einen Klienten, der im vergangenen Herbst bei uns lebte. Er hat hart konsumiert, ständig Alkohol getrunken, obwohl bei uns natürlich Konsumverbot ist. Es ging so nicht weiter und ich rief einen Krankenwagen, der ihn abholte. Der Mann war total sauer und hat mich übel beschimpft. Warum ich das getan habe? Acht Wochen später, nach der Entgiftung, kam er zu mir ins Büro und hat mich gedrückt. Er macht jetzt eine Langzeittherapie und ich hoffe, dass wir uns nie wieder sehen.

Es ist schwierig, solche Entscheidungen zu treffen. Ich rufe den Krankenwagen oder die Polizei nur, wenn ich weiß: Alles, was wir hier anbieten können, hilft nicht mehr. Für mein Team und mich ist es wichtig, die Lage unserer Klienten zu erfassen und ihre Motivation einschätzen zu können. In Gesprächen frage ich nach der Vorstellung vom eigenen Leben. Einige sagen: ‚Ey, keine Ahnung!‘. Andere wissen doch sehr genau, was sie möchten. Vielleicht den Kontakt zur Familie wieder herstellen oder eine Ausbildung zum Elektriker machen.

Manchmal geht es darum, ganz konkret neue Wege zu gehen. Am ersten Weihnachtsfeiertag habe ich mit drei Klienten einen Ausflug zur Walhalla gemacht. Die waren begeistert! Ich war überrascht, wie ruhig sie waren, was sie alles erzählt haben und wie sie den kleinen Spaziergang durch den Wald genossen haben. Eine Klientin hat Bäume umarmt! Die drei sind seit Jahren nur den Weg zwischen Hauptbahnhof und unserer Notunterkunft gegangen. Da verändert ein Ausflug zur Walhalla tatsächlich den Blick aufs eigene Leben. Und die Probleme im Tal sind für einen Moment ganz klein.“

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