Von der Essstörung zurück ins Leben

02.11.2022


Von der Essstörung zurück ins Leben

Die Caritas Fachambulanzen für Suchtprobleme unterstützen auch Menschen mit Essstörungen. Hier erzählt eine Betroffene ihre Geschichte.

Symbolbild Essstörung (Foto: unsplash.com)

Ein Gastbeitrag von Nathalie Klein

„Es begann schleichend. Ich trennte mich nach fünf Jahren Beziehung von meinem damaligen Freund. Mit Anfang 20 wollte ich nun richtig durchstarten, das Leben genießen.

Ziemlich schnell versank ich im Alltagsstress. Ich machte alles, was man machen konnte. Ich studierte, arbeitete nebenbei, sang im Chor, spielte Theater und kümmerte mich hin und wieder um soziale Kontakte, die sich meist auf Tinder-Dates beschränkten.

Zwischen all dem war nicht mehr viel Zeit für mich. Oder fürs Essen.

Einige Wochen vergingen und ich bemerkte noch nichts davon, dass der Stress mich zu übermannen drohte. Ich funktionierte, und das gut.

Irgendwann begann ich mich darüber aufzuregen, wie sich meine Jeans ausbeulten. Dass die Ausbuchtungen in meinen Klamotten aber gute Gründe haben könnten, kam mir nicht in den Sinn.

Erst als mich mein Umfeld in die Wahrheit einbezog, wurde es mir allmählich klar: Ich hatte abgenommen. Und das nicht gerade wenig.

Die Waage brachte mir dann noch einmal Gewissheit. Nur mein Spiegelbild wollte mir nicht zeigen, dass ich in kürzester Zeit fast 10 Kilo verloren hatte.

Sofort hatte ich Blut geleckt. Vorherige Versuche abzunehmen waren alle gescheitert, doch jetzt hatte ich den Start schon hinter mir und ich war bereit für meinen Sprint.

Ich begann Kalorien zu zählen, Lebensmittel in die Kategorien „gesund“ und „verboten“ einzuteilen und viel Sport zu treiben. Es lief gut und ich verlor immer mehr an Gewicht. Zumindest sagte mir das die Waage, denn komischerweise sah ich es noch immer nicht an mir selbst.

Aber ich hatte doch schon über 10 Kilo abgenommen. Ich MUSSTE doch endlich etwas sehen. Durch den Sport bin ich viel stärker als zuvor. Irgendwann MUSSTE ich doch sichtbare Bauchmuskeln bekommen.

Doch ich sah immer noch angebliche Fettpolster und Speckröllchen, wo eigentlich gar keine mehr waren. Gar nicht mehr sein konnten.

Bestätigung fand ich jedoch in meinem Umfeld. Meine Tinder-Dates wurden zu einem regelmäßigen Zeitvertreib und es gefiel mir so beliebt beim männlichen Geschlecht zu sein. Nach jedem Treffen hatte ich ein kurzes Gefühl von Euphorie. Leider muss ich das Wort „kurz“ hierbei betonen. Denn ja, es war schön Komplimente und begehrende Blicke zu bekommen. Doch wenn ich allein war und mich erneut im Spiegel betrachtete, konnte ich meine Dates nicht verstehen. Ich gefiel mir selbst nicht. 

Die Klientin Nathalie Klein (Pseudonym) im Gespräch mit Myriam Peschek, Suchtberaterin und Leiterin der Caritas Fachambulanz für Suchtprobleme in Tirschenreuth. (Foto: Caritas Fachambulanz Tirschenreuth)

Die Monate vergingen und irgendwann stagnierte mein Gewicht. Ich hatte eine Zahl erreicht, welche ich zuletzt in der 7. Klasse auf die Waage brachte. Und immer, wenn ich mich schick anzog und durch die Straßen ging, dachte ich, ich wäre selbstbewusst. Dass mich die Zahl auf der Waage zu einer extrovertierten, selbstbewussten Frau machte. Dass mich Männer selbstbewusst machten.

Schon kurz nach meiner Trennung wünschte ich mir wieder eine Beziehung. Nach dieser habe ich regelrecht gesucht, was im Nachhinein betrachtet ein großer Fehler, aber für meine Reise wohl notwendig war. Denn nur wegen dieser Suche traf ich auf einen Mann, der letztendlich meine Bulimie auslöste.

Dies mag vielleicht etwas verwirrend klingen, aber ich habe meine Essstörung auch immer als Startschuss für meine Heilung gesehen. Denn durch sie wurde mein Zustand für mich greifbar.

Dieser besagte Mann hat mir etwas Schlimmes angetan. Er hat mir meine Wichtigkeit genommen, welcher ich mir auch vor seiner Zeit nicht wirklich bewusst war. Doch als er unsere kurze Beziehung beendete, fühlte ich mich nur noch wertlos. Ich hatte das verloren, was ich unbedingt wollte und das, obwohl ich sportlich und schlank war.

Oder war ich noch immer nicht schlank genug? Musste ich noch etwas abnehmen? Würde ich dann meine Liebe finden? Würde ich mich dann wohlfühlen?

So versuchte ich meine Abnehmreise fortzuführen. Doch irgendwann hat mein Köper eben begonnen zu streiken und kein Kilogramm mehr verlieren wollen.

Ich versuchte es immer mehr, aß immer strenger, immer kontrollierter. Verzichtete auf immer mehr Lebensmittel, machte immer mehr Sport.

So lange, bis sich mein Körper zurückholte, was ich ihm so lange verwehrt hatte.

Zuerst aß ich einfach eine zweite Portion von etwas Gesundem. Irgendwann wurden es eine dritte oder vierte Portion.

Als ich aber eines Abends fünf kleine Schüsseln Müsli heruntergeschlungen hatte, begann sich etwas in mir zu rühren. Ich hatte den Wunsch alles wieder auszuspucken. Die Scham und der Ekel mir selbst gegenüber brachten mich dazu mir den Finger in den Hals zu stecken, um mich zu übergeben.

Anfangs kam es selten vor, dass ich so die Beherrschung verlor, doch schon bald passierte es öfter. Ich ernährte mich den ganzen Tag über in meinen Augen „gut“ und am Abend überrollte mich dann ein Heißhunger, der mich die Kontrolle verlieren ließ.

Und dann fing ich an, für meine Fressanfälle einzukaufen. Ich ging in ein Geschäft und kaufte Unmengen an Essen. Alles Dinge, die ich mir die letzten Monate strengstens verboten hatte. Ich kaufte so viel, dass es wahrscheinlich für eine ganze Familie mehrere Tage gereicht hätte.

Zu Hause stellte ich dann alles akribisch bereit. Ich saß vor dem Fernseher, wo eine gute Serie lief, umkreist von Süßigkeiten und Fast Food.

Und dann begann ich zu essen. Ich aß so viel, dass sich mein Bauch sichtlich nach außen wölbte. Ich aß dann immer noch weiter, so lange, bis ich mich nicht mehr rühren konnte, weil der Druck zu stark war. Der Weg zur Toilette bestand meistens aus einer Mischung aus Kriechen und vornübergebeugtem Humpeln. In diesem Stadium konnte ich das Essen gar nicht mehr in mir behalten. Ich übergab mich. Mehrere Male, bis mein Bauch wieder leer war. Gleich danach schämte ich mich für mein Verhalten. Oft weinte ich und schwor mir, so etwas nicht wieder zu machen.

Die Ess-Brech-Anfälle wurden irgendwann zu einem festen Bestandteil meines Tages.

Morgens ging ich zur Arbeit, danach besuchte ich meine Oma. Am Nachmittag musste ich dann für meine Anfälle einkaufen und gleich im Anschluss begann ich zu essen.

Es gab nur noch selten Tage, an denen ich keine Anfälle hatte. Spätestens am Nachmittag begann sich in mir etwas zu rühren und ich verspürte den Drang wieder alles mögliche in mich zu stopfen. Beim Essen fühlte ich mich im wahrsten Sinne des Wortes nicht so leer. Ich hatte eine feste Verabredung. Mit meinem Wohnzimmer, meiner Serie und dem Essen.

Das Erbrechen wurde irgendwann eine Art Selbstverletzung für mich, das Erbrechen wurde immer brutaler, denn mein Körper hatte sich mittlerweile an den Brechreiz gewöhnt. Ich wusste auch schon vor dem Anfall, dass ich mich danach schlecht fühlen würde. Und trotzdem tat ich es. Ich hatte die Kontrolle verloren.

Jede Woche wurde es schlimmer. Aus zwei bis drei Anfällen in der Woche wurden fünf am Tag. Und das war die Zeit, in der ich es körperlich und nicht mehr nur psychisch gemerkt habe, dass etwas nicht stimmte.

Ich hatte sehr mit Schwindel zu kämpfen, fühlte mich den ganzen Tag ausgelaugt. An Sport, der mir doch immer so gut tat, war gar nicht zu denken.

Ich verlor meinen früheren Tagesablauf, meine Fitness, mein Körpergefühl. Immer wieder versuchte ich mir einzureden, dass es am nächsten Tag besser werden würde. Dass ich einfach nur einen Neustart brauchte, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Doch es klappte nicht.

Ich wurde immer schwächer, meine Periode kam nicht mehr und ich litt permanent unter Magenschmerzen. Ich war ein Wrack. Meine Freunde hörten nichts mehr von mir, ich zog mich immer mehr zurück. Schämte mich für mich selbst und wurde immer weiter in die Depression gezogen. Ich konnte mich selbst nicht mehr leiden, hasste mein Aussehen und meine Schwäche. Wollte nicht mehr leben.

Niemand weiß, wie lange ich es so ausgehalten hätte, wäre mein „Geheimnis“ nicht durch einen komischen Zufall ans Licht gekommen. Nun musste ich mich erklären. Zum ersten Mal teilte ich mein Leiden mit jemandem und ich bekam Zuspruch und Motivation mir Hilfe zu holen.

Und nur deswegen bin ich noch am Leben.

Ich hatte sehr große Angst vor meinem ersten Termin bei der Suchtberatung.

Ich bin doch nicht wirklich „krank“. Es gibt Menschen, denen geht es so viel schlechter als mir. Was ist, wenn meine Beraterin denkt, dass ich übertreibe und mich wieder nach Hause schickt?

Schon allein die Tatsache, dass ich mir solche Gedanken machte, zeigte den Ernst meines Zustands. Ich brauchte Hilfe und das dringend.

Schnell war klar, dass ich durch ambulante Therapie nicht dorthin gelangen kann, wo ich hinmöchte, also wurde ich in einer Klinik für Psychotherapie angemeldet. Da sich mein Zustand jedoch rapide verschlechterte und ich für eine Aufnahme zur Therapie noch einige Zeit warten musste, habe ich mich dazu entschlossen in eine Akutklinik zu gehen.

Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Ich musste mich bei einigen meiner Arbeitskollegen outen, ich pausierte mein Studium, weihte meine Lehrer ein und konnte meine Abschlussprüfung nicht mit meinen Klassenkameraden durchführen. Es war schwer. Sehr schwer sogar.

Und doch bin ich über alles dankbar, dass ich diesen Schritt gewagt habe.

Schon während der dreieinhalb Wochen in der Akutklinik erkannte ich, dass es nichts Verwerfliches ist, sich Hilfe zu holen. Aber erst die Therapie in der Spezialklinik hat mir gezeigt wie viel Arbeit es ist zu heilen. Es ist ein Zeichen von Stärke, wenn man sich dazu entschließt den Dämonen in sich selbst den Kampf anzusagen und jeder Mensch, der dies versucht, verdient Respekt.

Ich bin noch immer nicht „gesund“. Ob es so einen Zustand für mich geben wird, weiß ich noch nicht, jedoch bin ich mir sicher, dass ich alles dafür tun werde, um endlich glücklich zu sein.

Seit meiner strengen Lebensweise habe ich wieder gute fünf Kilo zugenommen. Es ist in Ordnung. Ich lebe gesund und versuche mich fit zu halten. Das ist alles was zählt. Nie wieder möchte ich meinem Körper das antun, was ich ihm damals angetan habe. Ich bin gut so, wie ich bin. Und niemand definiert mich über mein Gewicht. Niemand.

Ein glückliches Leben ist so viel mehr Wert als eine Größe 34.“

Zusatzinfo: Suchtberatung bei der Caritas Regensburg

Nathalies Geschichte ist ein gutes Beispiel für die schleichende Entwicklung und die teilweise dramatischen Folgen einer Essstörung. Nach Studienlage wurden im Jahr 2020 in deutschen Krankenhäusern insgesamt 7355 Fälle von Anorexie und 1403 Fälle von Bulimie diagnostiziert. 80 Menschen starben an den Folgen einer Essstörung. Nathalie fand den Weg in eine Beratungsstelle und erhielt dort die beraterische Hilfe und Unterstützung die sie brauchte. Anlaufstellen für das Thema Essstörungen sind die Fachambulanzen für Suchtprobleme der Caritas Regensburg und der Caritas Kreisverbände mit Niederlassungen in Regensburg, Kehlheim, Schwandorf, Straubing, Landshut, Amberg, Cham, Weiden, Dingolfing, Tirschenreuth, Deggendorf und Parsberg.

Genauer Informationen erhalten Sie unter:

https://www.caritas-regensburg.de/beratenundhelfen/suchthilfe/sucht

Besuchen Sie uns auf unseren
Social Media Kanälen:

Caritasverband für
die Diözese Regensburg e.V.
Von-der-Tann-Straße 7
93047 Regensburg

T +49 941 502 10
F +49 941 502 11 25
info@caritas-regensburg.de
www.caritas-regensburg.de